Von Tauberbischofsheim nach Jerusalem

Nachruf: Die letzte überlebende Jüdin aus Tauberbischofsheim, Chana Sass, ist gestorben

„Das ist es, was die Opfer wünschen: Dass ihrer gedacht wird, wenigstens ihrer gedacht wird" (Elie Wiesel)

Erst jetzt hat uns die Nachricht erreicht, dass Chana Sass, die letzte überlebende Jüdin aus Tauberbischofsheim,
am 4. August 2021 hochbetagt, im Alter von 95 Jahren, in Jerusalem verstorben ist. Deshalb soll hier noch einmal
an das bewegte Leben der Chana Sass erinnert werden.

Geboren wurde sie am 3. Dezember 1925 als Hannelore Simons. Ihre Mutter Flora entstammte der weitverzweigten
Familie Brückheimer aus Külsheim. Sie kehrte nach sehr kurzer Ehe mit Ernst Simons aus Köln wieder in ihre
Heimatstadt Tauberbischofsheim zurück, wo ihre Tochter Hannelore zur Welt kam. Mit der Anfang 1925 verwitweten
Großmutter Bertha Brückheimer - ihr Mann Lazarus hat seine letzte Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof in
Tauberbischofsheim gefunden - lebten Flora und Hannelore zunächst in der oberen Haupttstraße (heute: Fahrrad-
Schunder), dann, nach dem Verkauf des Hauses ab 1934 im Haus der Familie Ries in der Manggasse. Hannelore
besuchte anfangs die Volksschule in Tauberbischofsheim. Nachdem am 15. November 1938 jüdischen Kindern
der Besuch einer deutschen Schule verboten worden war, ging sie bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939
in die jüdische Schule in Mergentheim. Am 3. September wurden die jüdischen Einwohner auf dem Marktplatz
zusammengetrieben und im jüdischen Gemeindehaus am Sonnenplatz eingesperrt. Schließlich wurden
am 22. Oktober 1940 mit einem Rundumschlag alle badischen Juden, fast 6000 Menschen, also auch die noch
in der Stadt verbliebenen 22 Personen, in das Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen deportiert und von dort aus
im Laufe der nächsten zwei Jahre in verschiedene andere Lager in Frankreich weiterverlegt. Von dort aus ging es
1942 für die meisten in das Vernichtungslager nach Auschwitz. So geschah es auch Flora Simons, die von Drancy
nach Auschwitz kam und dort wahrscheinlich 1944 ermordet wurde. Großmutter Bertha starb im Januar 1944
an den Folgen eines Sturzes in einem der Lager.

Hannelore entging den Deportationen, indem ihr immer wieder Menschen vor solchen Transporten geholfen haben
oder sie Jobs als Kindermädchen oder Haushaltshilfe bekam, 1944 schließlich sogar falsche Papiere, die sie zur
belgischen Christin machten. Nach der Befreiung Frankreichs wurde durch amerikanisch-jüdische Organisationen
ein jüdisches Kinderhaus für bis dahin versteckte jüdische Kinder eingerichtet, zunächst für 40 Kinder.
Nach der Verlegung nach Grenoble waren es 160 Kinder. Hannelore arbeitete als Betreuerin und Krankenschwester.
Im August 1948 wanderte sie schließlich mit einer Kindergruppe nach Israel aus und arbeitete als Sekretärin.
1950, Hannelore nennt sich nun hebräisch Chana, heiratete sie Chaim Sass, einen aus Wien ausgewanderten
Absolventen der Wiener Hochschule für Welthandel. Es werden drei Kinder geboren: Niza 1951, Muli 1953
und Ofira 1955. Die Familie lebte in der Nähe von Haifa.

1979 fand ihre erste Begegnung mit ihrem Vater Ernst Simons in Köln statt, der in Frankreich überlebt hatte.
Er verstarb 1981. In Köln lernte Chana auch ihre gleichalte Cousine Lilly kennen, die in Jerusalem lebte
und die Deportation nach Riga überlebt hatte.
1983 besuchte Chana Sass zum ersten Mal wieder Tauberbischofsheim, das ihr vertraut und dennoch fremd ist:
Kein einziges der ehemaligen jüdischen Geschäfte existiert mehr, das Kaufhaus Sauer etwa oder
das Schuhgeschäft Steinhardt. Aber die Begegnungen mit der Familie Ries und anderen ehemaligen Nachbarn
verliefen sehr herzlich. Von dem Besuch im Oktober 1983 hat die FN am 20.10. in einem ausführlichen Artikel
berichtet.
Im Juli 1993 verstarb Chaim Sass, und Chanas Kinder holten sie nach Jerusalem, wo sie durch die Cousine Lilly
viel Unterstützung fand. Diese hatte 1977 den Seniorenclub „Die Offene Tür" mitbegründet, der nun zur 2. Heimat
wurde und in dem sie auch tatkräftig mitarbeitete.

Ab ca. 2007 begannen Schülerinnen und Schüler der Tauberbischofsheimer Gymnasien, sich für die Geschichte
der Juden im Taubertal zu interessieren, u.a. im Zusammenhang mit der zentralen Gedenkstätte für die aus Baden
am 22.Oktober 1040 deportierten Juden in Neckarelz. Eine Schülerin des Wirtschaftsgymnasiums, Eva Uihlein,
äußerte den Wunsch, Chana Sass als letzte Überlebende in Jerusalem zu interviewen, und Schuldekan
Hansjörg Ghiraldin und ich begleiteten Eva im März 2011. So konnte ich Chana noch persönlich kennenlernen.
Auch Cousine Lilly Menczel war anwesend, und beide Damen nahmen uns sehr herzlich auf und führten uns auch
in ihren Club „Die Offene Tür" .Es war ein sehr beeindruckender Kontakt. Beim Abschied gab uns Frau Sass ihre
Lebenserinnerungen mit, die sie für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben hatte Und sie gab uns die Erlaubnis,
diese Erinnerungen aus dem Hebräischen übersetzen zu lassen und zu veröffentlichen. Diese wurden 2013
als kleines Büchlein mit dem Titel „Von Tauberbischofsheim nach Jerusalem" von den „Tauberfränkischen
Heimatfreunden" herausgegeben.

Ich begann dafür, die Familiengeschichte der „Brückheimers" zu recherchieren.
Zugleich regte ich an, in Tauberbischofsheim einen Ort der Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Mitbürger
zu schaffen. Die „Tauberfränkischen Heimatfreunde" griffen diese Idee auf, und gemeinsam entwickelten
Hansjörg Ghiraldin, Manfred Frank, Manfred Hau und ich die Konzeption für die Jüdische Erinnerungsstube"
im so genannten Limbachhaus, die 2014 der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. Exemplarisch ist dort
u.a. die Geschichte der Hannelore Simans/Chana Sass dokumentiert.
Ebenfalls 2014 konnte ich Chana und Lilly nochmals in Jerusalem besuchen, und es war wieder ein sehr herzliches
Zusammentreffen. Die schleichende Erkrankung Chanas begann sich schon abzuzeichnen, und so riss der direkte
Kontakt leider ab. So erreichte uns die Nachricht ihres Todes erst sehr verspätet. Auch Lilly ist inzwischen
verstorben. Und so wünsche ich mit dem jüdischen Gruß den Verstorbenen, dass diese „in das Bündel des Lebens"
eingebunden seien. Die Erinnerung an Hannelore Simons und die übrigen jüdischen Opfer aus Tauberbischofsheim
möge so wachgehalten bleiben.

Das Büchlein „Von Tauberbischofsheim nach Jerusalem" und eine kleine Erzählung von Martin Bartholme
über die Deportation „Schokolade zum Frühstück" sind im Tauberfränkischen Landschaftsmuseum erhälltlich.

© Kerstin Haug-Zademack


Chana Sass (rechts) und Lilly Menczel im Jahr 2011